Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das babylonisch-assyrische Konzept von Zeit systematisch zu untersuchen und darzustellen. Sie ist konzipiert als Überblickswerk, das den Ausgangspunkt für weitere Forschung bilden kann. Im Allgemeinen wird der Frage nachgegangen, welche Eigenschaften und Merkmale dem Phänomen der Zeit zugeschrieben wurden.
Untrennbar damit verbunden ist die Fragestellung, in welchen Texten die einzelnen Eigenschaften hervorgehoben werden und welche Rolle die Zeit im Kontext der jeweiligen Quellen einnimmt. Da in den Sprachen des Alten Orients kein abstraktes Wort für Zeit bekannt ist, soll zudem analysiert werden, wie sich das Phänomen auf lexikalischer Ebene darstellt.
Im Verlauf der Arbeit wird die Zeit einerseits als Phänomen der Natur betrachtet, andererseits wird ihre gesellschaftliche Relevanz und Funktion in den Blick genommen. Hinsichtlich der Zeit als Naturphänomen stellt sich die Frage, welche natürlichen Begebenheiten der Zeitwahrnehmung zugrunde lagen und welche Funktionen diese im Detail erfüllten. Da Natur im Alten Orient eng mit den Glaubensvorstellungen der Menschen verbunden war, sollen auch die theologischen Konzeptionen untersucht werden, die mit den Zeitvorstellungen verknüpft waren.
Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit zu den babylonisch-assyrischen Zeitvorstellungen des 1. Jt. v. Chr. bildete die vermeintliche Problematik, dass weder das Akkadische noch das Sumerische ein Wort erkennen lassen, das mit einem abstrakten Zeitbegriff gleichgesetzt werden kann.
Im Zuge der Untersuchung konnte jedoch festgestellt werden, dass anstelle eines einzigen, abstrakten Zeitbegriffes ein umfassendes Netzwerk spezifischer Zeitbegriffe zur Anwendung kam. Im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Zeit, lassen sich die Zeitbegriffe in zwei größere Gruppen einteilen: Die erste Gruppe bilden die Begriffe für Tag, Monat und Jahr. Im Kontrast dazu stehen die sekundären Zeitbegriffe, die – mit Ausnahme der Tag- und Nachtwachen (maṣṣartu) – keine erkennbare Rolle für das untersuchte Konzept von Zeit spielen. Die sekundären Zeitbegriffe werden von sozialen, ökonomischen und mitunter auch physikalischen Begebenheiten abgeleitet. Eine Sonderstellung nehmen die Zeitbegriffe adannu und simanu ein, die im Voraus festgesetzte (adannu) bzw. als angemessen betrachtete (simanu) Zeitpunkte und Zeiträume bezeichnen. Diese Bedeutungsnuancen kommen im Kontext der Idealität des Zeitverlaufs und der Divination zur Geltung.
Das theoretische Wissen um den Lauf der Zeit steht nur einem sehr kleinen Personenkreis zur Verfügung. Durch die praktischen Tätigkeiten der Gelehrten entfaltet sich das Konzept von Zeit jedoch auch auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene. Dies betriff wiederum die qualitativen und numinosen Eigenschaften der Zeit, die in der Divination, der Hemerologie und in Ritualen zum Ausdruck kommen.
Ein fundiertes Wissen um den Verlauf der Zeit sowie die Methoden der Beobachtung und Messung waren für die Gelehrten von entscheidender Bedeutung, da nur so die Aufrechterhaltung des Kalenders und dessen notwendige Regulierung gewährleistet werden konnten. Die Wichtigkeit dieses Wissens drückt sich im „Handbuch der Beschwörungskunst“ auch durch die abschließende Aufforderung aus, bei der Ausführung der kalendarischen Tätigkeiten nicht nachlässig zu sein. Der Stellenwert dieser Tätigkeit wird durch die primären Aufgaben der Gelehrten deutlich: Ein korrekt regulierter Kalender war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Gelehrten auftretende Omina korrekt interpretieren und hemerologische Vorgaben beachten konnten. Ein unzureichend regulierter Kalender konnte somit im schlimmsten Fall fatale Auswirkungen auf den König und das gesamte Land haben.
Die Bedeutung der Zeit für die Gelehrten hat auch Widerhall auf mythischer Ebene gefunden, wenn auch in wesentlich älterem Textmaterial. So beschreibt der Mythos „Enki und die Weltordnung“, wie der Weisheitsgott Enki den Verlauf der Zeit verfolgt und anhand dessen den Kalender reguliert. In altbabylonischen „Atram-ḫasīs-Mythos“ wiederum wird dargelegt, wie Enki die Zeit bis zur kommenden Sintflut mithilfe einer Wasseruhr misst.
So lassen sich im ausgehenden 2. sowie im 1. Jt. v. Chr. mehrere mythische Texte und Textpassagen nachweisen, die das Thema Zeit aufgreifen. Diese Texte erläutern wie, warum und von wem die Zeit wahrnehmbar gemacht wurde. So schildert das „Enūma eliš“, wie die Zeit wahrnehmbar gemacht wurde, indem sie durch die zyklischen Bewegungen der Himmelskörper in Zeiteinheiten aufgeteilt wurde. Dies verdeutlicht, dass die Etablierung wahrnehmbarer Zeit unmittelbar auf den Kalender ausgerichtet war. Das „Enūma eliš“ weist dementsprechend enge intertextuelle Bezüge zu anderen sternenkundlich-kalendarischen Texten wie „MUL.APIN“ oder „Zwölfmaldrei“ auf.
Neben dem „Enūma eliš“ existieren weitere, kürzere Textpassagen, die das Thema aufgreifen. Der Text „Ištars Erhöhung“ zeigt, dass Sonne und Mond die Verantwortung für die Anzeige der Zeit übertragen wurde. Das Werk „Enūma Anu Enlil“, die umfangreiche Serie astraler und meteorologischer Omina, enthält drei verschiedene mythische Passagen, die jeweils die Sterne, die Sonne und den Mond in den Vordergrund rücken und dabei in Zusammenhang mit der Etablierung der Zeit bringen. Allen voran die als šanîš gekennzeichnete, akkadische Version zeigt erneut auf, dass die Etablierung der Zeit mit den bereits genannten Plänen in Verbindung steht. Darüber hinaus erläutert der Textabschnitt, dass die Einführung der wahrnehmbaren Zeit dezidiert im Hinblick auf die Menschheit geschah. Alle mythischen Texte teilen somit die gleichen literarischen Motive hinsichtlich der Etablierung zyklisch-wahrnehmbarer Zeit. Unterschiede lassen sich jedoch hinsichtlich der göttlichen Akteure feststellen. So gilt im „Enūma eliš“ Marduk als derjenige, der den Kosmos geschaffen, geordnet und somit die Wahrnehmbarkeit der Zeit hergestellt hat. In den übrigen Texten fällt diese Aufgabe der Göttertrias Anu, Enlil und Ea zu.